Andacht November 2022

Weh denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen, die aus sauer süß und aus süß sauer machen!
Jesaja 5, 20

Eine Erfahrung, die viele kennen: Geschriebene Worte „klingen“ ganz anders, als wenn man direkt miteinander spricht. Per Email oder Handynachricht kommen Worte oft härter, kühler, verletzender an, als sie gemeint waren.

„Wehe…!“ Wie klingt dieses Wort für dich? Ein Gerichtswort, eine Drohung? Die in Jes 5 gesammelten Wehe-Rufe sind auch das. Allerdings leihen sie sich ihr „Wehe“ aus der Totenklage (vgl. 1. Kön 13,30). Neben der Anklage klingt also auch Trauer mit: Klage über einen Weg, der ins Verderben führt.

Der Grundton dieser An-Klagen passt zum leidenschaftlichen Ringen Gottes mit Israel, wie es kurz zuvor im Weinberglied (Jes 5,1-7) beschrieben wurde. Das bittere Resümee in V.7: „Des HERRN Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.“

Ich finde es faszinierend, wie sich bei den Propheten Poesie und Gepolter verbinden. Jesaja hält seinem Volk in Gottes Namen einen herben Spiegel vor, seine Worte sind drastisch – aber auch poetisch-leidenschaftlich. Seine Gerichtsankündigungen sollen die Hörer aufrütteln, sie für Gottes Wege zurückgewinnen.

Die Wehe-Rufe in Jes 5 malen Israels Irrwege aus: Blindes Besitzstreben auf Kosten der Armen (V.8), ausschweifende Feiern (V.11-12.22), Gottvergessenheit und Gotteslästerung (V.12.19). Die schein-sichere Selbstzufriedenheit einer Oberschicht, die nun in politischen Krisen erschüttert wird (V.9.13-15).

Mittendrin richtet unser Monatsspruch den Blick auf Richter, die das Böse nicht aufdecken, sondern unter den Teppich kehren (vgl. auch V.23). Die Ungerechte gerecht sprechen, Gerechte verurteilen. Aber auch Licht und Dunkelheit, sauer und süß werden vertauscht: Eine umfassende Blindheit, ein fader Geschmacksverlust ist zu beklagen. Eine (bewusste?) Verzerrung der Wirklichkeit.

So geht die Anklage weit über die damalige Rechtsprechung hinaus und erreicht auch uns. Auch wir können uns fragen, von Gott zeigen lassen: Wie ist mein Urteilsvermögen? Wie klar sehe ich gesellschaftliche Zusammenhänge; beurteile ich Menschen gerecht? Wo ist mein Blick auf mein eigenes Leben verzerrt? Jesaja ruft auf, Böses offen anzusprechen – aber auch das Gute nicht zu Unrecht zu verurteilen. Das Süße genießen, und das Saure beim Namen nennen. Weder alles schwarzmalen noch das Dunkle schönfärben. Wo erkennst du dich in diesem alten Spiegel? Wer kann dir helfen, dich und andere klarer zu sehen? In diesem November ist nicht Nebel, sondern klare Sicht angesagt.

Dr. Deborah Storek
Theologische Hochschule Elstal