Du bist ein Gott, der mich sieht.
1. Mose 16, 13
„Du bist ein Gott, der mich sieht“. Eine kraftvolle Jahreslosung, die gut für sich selbst stehen kann. Mit diesem starken Titel benennt eine ägyptische Sklavin den Gott Israels. So ist unser Gott, das ist bis heute sein Wesen: Ein Gott, der mich, der dich sieht. Was für eine wunderbare Zusage, die uns 2023 begleitet!
Und doch: Manchmal lösen gerade solche positiven Aussagen Fragen aus. Siehst du auch mich, Gott? Ich habe nicht den Eindruck. Redest du mit mir? Ich höre so wenig. Ermutigung und Enttäuschung liegen manchmal nah beieinander.
Für mich wird dieser fast zu schöne Satz krisenfester, wenn ich ihn in seinem Kontext lese: Als Höhepunkt einer Geschichte, die in knappen Worten viel Schmerzhaftes erzählt. Viel Leid, das erduldet und einander angetan wird. Da ist eine Frau, die jahrelang auf Kinder gehofft hat und jetzt resigniert sagt: Gott hat mir verwehrt, zu gebären. Die ihrem eigenen Mann daher eine Zweitfrau zuführt, ihre Sklavin. Sarai heißt sie da noch, und ihr Mann Abram. Die Sklavin, Hagar, wird nicht nach ihrer Meinung gefragt. Sie wird von Sarai und Abram auch nie mit Namen genannt, immer nur als „meine/deine Sklavin“ bezeichnet. Und als sie, bald schwanger, auf ihre kinderlose Herrin herabsieht, wird sie von Sarai mit Abrams ausdrücklicher Erlaubnis gedemütigt.
In all den großen Themen, unerfüllter Kinderwunsch, Zwangsheirat, Eifersucht, gibt es ein stilleres Leitmotiv, das der Erzähler durch seine Wortwahl hervorhebt: Wie sehen wir einander an – und was lösen wir damit aus? Die Schwangere sieht auf die Kinderlose herab, die Herrin ist plötzlich „wie Nichts“ in den Augen ihrer Sklavin. Sarai ist davon so getroffen, dass sie sich bei Abram die Erlaubnis holt, mit Hagar zu tun, was „gut in ihren Augen ist“. Gut in Sarais Augen ist es, die Sklavin so zu demütigen, dass sie erkennt, wo ihr Platz ist: ganz unten. Die Augen anderer machen mich klein: Diese Erfahrung teilen beide Frauen. Wenn Blicke töten könnten…, sagen wir. Nicht selten erleben wir, wie wahr das Sprichwort ist. Wie schmerzhaft es ist, übersehen zu werden. Wie demütigend es sein kann, wenn meine Schwachstellen ausgeleuchtet werden, mein Versagen, meine wunden Punkte. Kein Wunder, dass die meisten Menschen beides kennen: Den großen Wunsch, gesehen zu werden – und die Angst davor.
Hagar flieht aus dieser Situation in die Wüste. Dort wird ihr ein anderer Blick zuteil. Ein Bote Gottes findet die entlaufene Sklavin. Er spricht sie mit ihrem Namen an, spricht ihr zwei große Verheißungen Gottes zu – mitsamt der Zusage, dass Gott ihre Not gehört hat. Hagars stammelnde Reaktion: „Und sie nannte den Namen des HERRN, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht. Denn sie sprach: Gewiss hab ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat.“
Wieviel Hagar von Gott gesehen hat – wie deutlich sie seinen Blick gespürt hat? Das bleibt wunderbar vage. Zum einen begegnet Gott ihr in Gestalt eines Boten. Erst im Nachhinein erkennt sie in dessen Reden die Worte Gottes. Und dann diese spannende Formulierung am Ende: Die ganze Begegnung erscheint Hagar als „Hinterhersehen“ hinter dem Gott, der sie ansieht. (Ganz wie Mose in 2. Mose 33,18-23 nur hinter Gott hersehen darf.) Die alte griechische Übersetzung bewahrt allerdings eine andere Variante, hier erklärt Hagar mutiger: „ich habe das Angesicht dessen gesehen, der mich sieht.“ Ich mag diesen Nebel über der Szene. So einfach ist das nicht, Gottes Blick wahrzunehmen, seine Stimme zu hören. Er zeigt sich uns – und entzieht sich doch auch. Er geht uns nach auf vielfältige Weisen – aber wir erahnen sein Handeln, seinen Blick auf uns meist nur.
Hagars geheimnisvolle Gotteserfahrung bleibt im Namen des Orts in steter Erinnerung: Brunnen des Lebendigen, der mich sieht (V.14). Und noch viel länger klingt ihr Gotteslob in dieser ergreifenden Erzählung in 1. Mose 16 nach, bis heute. In diesem Jahr sind wir aufgerufen, stammelnd, hoffend, vielleicht auch jubelnd einzustimmen: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Dr. Deborah Storek
Theologische Hochschule Elstal