Meine Augen haben deinen Heiland gesehen, das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern.
Lukas 2, 30-31
Simeon hatte ein Wort von Gott gehört: Er solle nicht sterben, bevor er nicht den Messias, den Christus, gesehen habe. Doch dieses Erlebnis lag nun schon längere Zeit zurück. Simeon wartete und wartete, vielleicht Jahr um Jahr. Manche späteren Nacherzählungen und Bilder stellen ihn als Greis dar. Aber davon weiß der Evangelist Lukas nichts zu berichten. Jedenfalls hatte sich die Sache hingezogen. Simeon gab nicht auf. Er wollte noch etwas vom Leben Gottes in dieser Welt sehen und es umarmen.
Endlich: Eines Tages hatte Simeon den Eindruck, er solle in den Tempel gehen. So machte er sich auf den Weg. Der Tempel, das war zu jener Zeit kein Ort der stillen Besinnung und des andächtigen Gebetes, eher ein trubeliger Marktplatz, kein Bethaus, sondern eine „Räuberhöhle“, wie Jesus später sagte (Lk 19,46). Doch wer meint, dass Gott hier fern sei, der irrt. Viele tausend Menschen strömten alljährlich an den großen Pilgerfesten aus der ganzen Mittelmeerwelt nach Jerusalem. Für alle Juden war der Tempel das zentrale Heiligtum und die Wohnstätte Gottes auf Erden. So war es wohl für Simeon nicht ungewöhnlich, genau hier nach dem seit langem erwarteten Gesalbten Gottes, dem Christus des Herrn (V. 26), Ausschau zu halten. Woran mochte er diesen wohl erkennen? Wir wissen es nicht. Die Geschichte fährt ebenso nüchtern wie geheimnisvoll fort (V. 27-31): „Als die Eltern das Kind Jesus in den Tempel brachten, um mit ihm zu tun, wie es Brauch ist nach dem Gesetz, da nahm er ihn auf seine Arme und lobte Gott und sprach: Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern.“ Simeon erweist sich damit als ein Mensch mit einem ganz besonderen Durch- und Einblick. Ein neugeborenes Kind, das von seinen Eltern in den Tempel gebracht wurde, war in Simeons Augen und in den Worten seines Mundes viel, viel mehr als das. Wo andere nur das Kleine und Unscheinbare sahen, da erkannte der prophetische Seher die Größe und das Heil Gottes für alle Welt und alle Völker. Damit wiederholt sich in gewisser Weise das Wunder von Bethlehem. Über dem unscheinbaren Kind in der Krippe hatten schon die Engel gesungen (Lk 2,11): „Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ Wer Gott sucht, der wird ihn in seinem Sohn Jesus Christus finden, damals im Tempel oder in einem Stall – und auch heute mitten in unserem Leben. Dies feiern wir am Christfest.
Prof. Dr. Carsten Claußen
Theologische Hochschule Elstal